Der ehrbare Antisemitismus: Antizionismus als Antisemitismus von Links

Vortrag von Dr. Thomas Haury, Freiburg

Montag, 15.12.2003, 20:00 Uhr, Schlatterhaus, Österbergstr. 2, Tübingen

Auf ihrem Höhepunkt Anfang der fünfziger Jahre hatten die seit Jahren in Osteuropa andauernden stalinistischen Parteisäuberungen eine unverhohlene antisemitische Ausrichtung. Auch in der DDR wurden hohe Parteimitglieder öffentlich angeklagt, im Dienste des Zionismus und der USA-Finanzoligarchie die Ausplünderung Deutschlands ins Werk gesetzt zu haben. In seinem Vortrag geht Thomas Haury der Frage nach, wie dieser „Antizionismus“ entstehen konnten. Er untersucht zu Beginn die Strukturen antisemitischen Denkens und vergleicht sie mit grundsätzlichen Programmatiken, die dem deutschen Kommunismus eine inhaltliche Prägung gaben:
Am Weltbild Lenins macht er deutlich, dass trotz des Fehlens unmittelbar
antijüdischer Einstellungen eine große Nähe zu antisemitischen
Verschwörungstheorien und Feindbildern besteht. So stellt Lenin zur Legitimation von Revolution und Parteidiktatur einen unversöhnbaren Gegensatz zwischen der ‚produktiven Arbeit‘ des ‚werktätigem Volk‘ und den ‚Finanzkönigen‘ und ‚volksfeindlichen Imperialisten‘ her.
Wie anfällig die Ideologie des „Marxismus-Leninismus“ in Verbindung mit dem in den 20er Jahren entstehenden kommunistischen Nationalismus für antisemitische Stereotype ist, zeigt sich auch an der Propaganda der KPD in der Weimarer Republik. Im Zuge ihrer nationalistischen Agitation, deren Ausmaß zu dieser Zeit einmalig unter den KPs in Europa war, setzte die KPD dem ’schaffenden deutschen Volk ‚bedenkenlos ‚jüdische Kapitalisten‘, ‚jüdische Börsenjobber‘ und das ‚verjudete Finanzkapital‘ entgegen.
Die SED schließlich trieb sowohl die Leninsche Ideologie als auch den
kommunistischen Nationalismus auf die Spitze:
Sie sah sich einer weltweiten imperialistischen Verschwörung der ‚Dollarkönige‘ gegenüber. In der DDR hätten sich ‚getarnte Agenten des Monopolkapitals‘ überall eingeschlichen, um Staat und Partei zu zersetzen. USA-Imperialismus und Zionismus verschmolzen zu einem weltweiten Verschwörungszusammenhang, gegen den das deutsche Volk unter Führung der SED den nationalen Befreiungskampf führen müsse.
Im Rahmen dieses Antizionismus ließen sich auch spezifisch deutsche Belange unterbringen. Die SED leugnete jede Mitschuld des deutschen Volkes am Nationalsozialismus und an der Vernichtung der europäischen Juden und lehnte es 1952/53 sogar ab, „arisiertes“ jüdisches Vermögen rückzuerstatten. Sie bezeichnete derartige Ansinnen als Ausbeutung des ‚werktätigen deutschen Volkes ‚zugunsten ‚zionistischer Monopol- Kapitalisten‘.
Neben der Schilderung der Genese dieses Antizionismus soll vor allem auch sein Einfluss auf die (Neue-) Linke in Westdeutschland, dessen Folgen bis heute und nicht zuletzt in Tübingen zu beobachten sind, dargestellt werden.
Auch der Frage, welchen Teil die Traditionen des linken Antizionismus,
des europäischen Antisemitismus sowie der besondere sekundäre
Antisemitismus nach Auschwitz in Deutschland jeweils auf die aktuelle Konjunktur der Israelfeindschaft in Europa und Deutschland beitragen, soll nachgegangen werden.

Von Thomas Haury erschien 2002 in der Hamburger Edition das Buch „Antisemitismus von links“ Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR.

Eine Veranstaltung von:

Tübinger Initiative gegen Antisemitismus und Antizionismus

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